Xavier Villaurrutia, ein bedeutender mexikanischer Dichter der Avantgarde, nutzt in seinem Gedicht „Nocturno en que nada se oye“ aus der Sammlung Nostalgia de la muerte (1938) die Sprache meisterhaft, um die Grenze zwischen Schlaf und Tod zu erkunden. Besonders auffällig sind seine Wortspiele, die durch Klang, Bedeutung und Wiederholung eine surreale, hypnotische Atmosphäre schaffen. Im Folgenden analysieren wir das Gedicht mit Schwerpunkt auf diesen sprachlichen Spielen, ergänzt durch thematische und stilistische Aspekte, um ihre Wirkung zu beleuchten.
Der Text des Gedichts
Hier ist der Originaltext auf Spanisch, um die Wortspiele direkt zu betrachten:
En medio de un silencio desierto
como la calle antes del crimen
sin respirar siquiera
para que nada turbe mi muerte
en esta soledad sin paredes
al tiempo que huyeron los ángulos
en la tumba del lecho
dejo mi estatua sin sangre
para salir en un momento tan lento
en un interminable descenso
sin brazos que tender
sin dedos para alcanzar
la escala que cae
de un piano invisible
sin más que una mirada
y una voz que no recuerdan
haber salido de ojos y labios
¿qué son labios?
Y mi voz ya no es mía
dentro del agua que no moja
dentro del aire de vidrio
dentro del fuego lívido
que corta como el grito
Y en el juego angustioso
de un espejo frente a otro
cae mi voz y mi voz que madura
y mi voz quemadura
y mi bosque madura
y mi voz quema dura
como el hielo de vidrio
como el grito de hielo
aquí en el caracol de la oreja
el latido de un mar
en el que no sé nada
en el que no se nada
porque he dejado pies y brazos
en la orilla
siento caer fuera de mí
la red de mis nervios
mas huye todo como el pez
que se da cuenta
hasta ciento en el pulso de mis sienes
muda telegrafía
a la que nadie responde
porque el sueño y la muerte
nada tienen ya que decirse.
Fokus auf Wortspiele
Villaurrutias Wortspiele sind zentral für die Wirkung des Gedichts. Sie erzeugen Mehrdeutigkeit, verstärken die musikalische Qualität und spiegeln die Auflösung von Identität und Realität wider. Hier sind die wichtigsten Wortspiele, analysiert mit Beispielen:
Wiederholung und Variation von „mi voz“ („meine Stimme“):
Beispiel: „cae mi voz y mi voz que madura / y mi voz quemadura / y mi bosque madura / y mi voz quema dura“.
Analyse: Der Abschnitt ab Zeile 26 ist ein Höhepunkt der Wortspiele. Die Wiederholung von „mi voz“ erzeugt einen hypnotischen Rhythmus, der wie ein Echo klingt. Villaurrutia spielt mit Klang und Bedeutung:
„madura“ („reift“) suggeriert Entwicklung, aber auch Verfall (wie überreifes Obst).
„quemadura“ („Verbrennung“) fügt Schmerz und Zerstörung hinzu, klingt aber ähnlich wie „madura“ durch die Alliteration und den Vokal „u“.
„bosque madura“ („Wald reift“) ist ein überraschender Einschub: Der „bosque“ („Wald“) ersetzt „voz“ („Stimme“), als ob die Stimme zur Natur wird. Der Klang bleibt durch „madura“ verbunden.
„quema dura“ („brennt hart“) kombiniert „quemar“ („brennen“) und „dura“ („hart“), was Härte und Intensität verstärkt. Die Silbenstruktur (que-ma-du-ra) spiegelt die vorherigen Zeilen.
Wirkung: Diese Kette von Wortspielen suggeriert eine Transformation der Stimme – sie reift, brennt, wird Natur und löst sich auf. Der Leser spürt die Instabilität der Identität des Sprechers, während der Klang wie ein musikalisches Motiv wirkt.
Paradoxale Wortkombinationen:
Beispiel: „agua que no moja“ („Wasser, das nicht nass macht“), „aire de vidrio“ („Luft aus Glas“), „fuego lívido“ („lebloses Feuer“), „hielo de vidrio“ („Eis aus Glas“), „grito de hielo“ („Schrei aus Eis“).
Analyse: Diese Oxymora verbinden Gegensätze, um die surreale Welt des Gedichts zu schaffen:
„Agua que no moja“ widerspricht der Natur des Wassers. Es ist, als ob die Elemente ihre Eigenschaften verlieren, wie der Sprecher seine Identität.
„Aire de vidrio“ und „hielo de vidrio“ spielen mit der Transparenz und Kälte von Glas. „Vidrio“ („Glas“) klingt zerbrechlich und kalt, was die Isolation des Sprechers unterstreicht.
„Fuego lívido“ („lebloses Feuer“) kombiniert Leben (Feuer) mit Tod („lívido“ bedeutet blass, wie eine Leiche). Das Feuer „corta como el grito“ („schneidet wie ein Schrei“), was Schmerz und Klang verbindet.
Wirkung: Die Wortspiele brechen die Logik der realen Welt auf, wie in einem Traum oder im Tod. Sie machen das Unsichtbare greifbar und verstärken die Atmosphäre der Leere.
Alliteration und Klangspiele:
Beispiel: „silencio desierto“ („wüstenartige Stille“), „tumba del lecho“ („Grab des Bettes“), „escala que cae / de un piano invisible“ („Tonleiter, die fällt / von einem unsichtbaren Klavier“).
Analyse:
„Silencio desierto“ nutzt die „s“-Laute, um die Leere zu betonen. Der Klang imitiert das Fehlen von Geräuschen.
„Tumba del lecho“ verbindet „tumba“ („Grab“) und „lecho“ („Bett“) durch den Klang „t“ und „ch“. Beide Wörter suggerieren Ruhe, aber „tumba“ fügt die Idee des Todes hinzu.
„Escala que cae / de un piano invisible“ spielt mit der Doppeldeutigkeit von „escala“ („Tonleiter“ oder „Leiter“). Der Klang „ca“ (in „cae“ und „escala“) imitiert das Fallen von Tönen oder einer Leiter, während „piano invisible“ die Abwesenheit von Klang betont.
Wirkung: Die Alliterationen und Klangspiele machen das Gedicht musikalisch und verstärken die Idee des „nada se oye“ („nichts ist zu hören“). Der Leser „hört“ die Sprache, obwohl sie Stille beschreibt.
Metaphorische Wortspiele mit „caracol de la oreja“ und „latido de un mar“:
Beispiel: „aquí en el caracol de la oreja / el latido de un mar / en el que no sé nada / en el que no se nada“.
Analyse: „Caracol de la oreja“ („Schneckenhaus des Ohrs“) ist eine Metapher für das Ohr, aber „caracol“ („Schnecke“) weckt Bilder von Spirale und Tiefe, wie ein Abstieg ins Innere. „Latido de un mar“ („Puls eines Meeres“) verbindet den Herzschlag („latido“) mit dem Meer, was Klang und Bewegung suggeriert, aber in einem Raum, wo „no se nada“ („man nichts weiß“). Die Wiederholung von „no sé nada“ und „no se nada“ spielt mit der Aussprache („sé“ klingt wie „se“) und betont die Unwissenheit und Auflösung.
Wirkung: Diese Wortspiele machen das Ohr zum Zentrum der Wahrnehmung, die jedoch leer bleibt. Der Klang von „mar“ („Meer“) und „caracol“ („Schnecke“) verstärkt die Verbindung zur Natur, die den Sprecher verschlingt.
Spiegelung und Dopplung:
Beispiel: „en el juego angustioso / de un espejo frente a otro“ („im qualvollen Spiel / eines Spiegels gegenüber dem anderen“).
Analyse: Die Metapher der Spiegel spielt mit der Idee der unendlichen Reflexion, wo die Stimme des Sprechers sich vervielfacht und doch verliert („cae mi voz“). Das Wort „juego“ („Spiel“) suggeriert Leichtigkeit, aber „angustioso“ („qualvoll“) fügt Schmerz hinzu. Der Klang von „espejo“ („Spiegel“) mit seinen weichen Vokalen (e, o) kontrastiert mit der Härte von „angustioso“.
Wirkung: Das Wortspiel zeigt die Zerrissenheit der Identität: Die Stimme wird reflektiert, aber nie gefasst, wie in einem endlosen Traum.
Thematische Verbindung der Wortspiele
Die Wortspiele sind nicht nur dekorativ, sondern unterstützen die Hauptthemen des Gedichts:
Schlaf und Tod: Die Wiederholungen („mi voz“) und Paradoxa („agua que no moja“) spiegeln den Übergang vom Bewusstsein zur Auflösung wider. Der Sprecher verliert seine Stimme und seinen Körper, wie in „dejo mi estatua sin sangre“ („ich lasse meine blutlose Statue zurück“).
Stille und Leere: Der Titel „nada se oye“ wird durch die musikalischen Wortspiele ironisch unterstrichen: Der Leser „hört“ die Sprache, aber sie beschreibt eine Welt ohne Klang.
Surreale Auflösung: Die Wortspiele wie „bosque madura“ oder „hielo de vidrio“ brechen die Logik der Realität auf, wie in einem Traum, wo Grenzen verschwimmen.
Stilistische Bedeutung
Villaurrutias Wortspiele sind stark von der Avantgarde und dem Surrealismus inspiriert, besonders von Autoren wie André Breton. Sie machen das Gedicht zu einem akustischen Erlebnis: Der Leser muss die Worte laut hören, um ihre Wirkung zu spüren. Gleichzeitig sind sie philosophisch – sie zeigen, wie Sprache selbst zerfällt, wenn der Sprecher seine Identität verliert. Die Klangspiele (Alliterationen, Assonanzen) und die Doppeldeutigkeiten („escala“, „madura“) schaffen eine Atmosphäre, die sowohl schön als auch verstörend ist.
Schluss: Die Kraft der Wortspiele
Die Wortspiele in „Nocturno en que nada se oye“ sind das Herz des Gedichts. Sie verbinden Klang und Bedeutung, um die Themen von Tod, Schlaf und Verlust greifbar zu machen. Durch Wiederholungen, Paradoxa und Metaphern schafft Villaurrutia eine Welt, in der die Sprache tanzt, aber auch zerfällt – genau wie der Sprecher. Für den Leser ist es ein Erlebnis, die Worte laut zu lesen, um die Stille zu „hören“, die das Gedicht beschreibt. Es ist ein Beweis für Villaurrutias Meisterschaft, dass er mit einfachen Wörtern so tiefe und vielschichtige Effekte erzielt.